TTR: Die BTV betreibt eine Forschungskooperation mit dem Fraunhofer Institut zu Zukunftsthemen im Tourismus. Um welche Themen handelt es sich dabei?
Eva Guem: Die BTV ist Teil des Forschungs- und Innovationsnetzwerkes „FutureHotel“ des Fraunhofer Instituts, welches eine angewandte Verbundforschung mit Wirtschaftspartnern für das Ökosystem Hotel betreibt. Die Frage, wie das Hotel der Zukunft aussieht, steht dabei im Zentrum. Relevante technologische, wirtschaftliche, ökologische und gesamtgesellschaftliche Schlüsselentwicklungen und deren Auswirkungen auf die Hotellerie werden ebenso analysiert wie die Anforderungen verschiedener Gästetypen und Optimierungspotenziale im Hotelbetrieb. Zukunftsweisende und umsetzungsfähige Lösungen und Konzepte werden dabei entworfen und in der Praxis ausprobiert.
TTR: Neue Technologien wie beispielsweise Extended Reality (XR) prägen den Tourismus von morgen. Was bedeutet XR und was macht diese Technologie aus?
Eva Guem: Extended Reality (XR) ist ein Überbegriff für alle neu entwickelten immersiven Technologien. „Immersiv“ beschreibt dabei das Eintauchen in andere Welten. XR umfasst die Konzepte Augmented Reality, Mixed Reality, Virtual Reality und Augmented Virtuality. Diese Technologien unterscheiden und definieren sich primär durch das Verhältnis von realer und virtueller Welt.
Die einzelnen Technologien im Überblick:
- Augmented Reality (AR): Hier liegt die Realität im Vordergrund. Es werden virtuelle Objekte oder Informationen auf eine reale Umgebung projiziert. Die tatsächliche Umgebung steht dabei im Mittelpunkt der Wahrnehmung. Das heißt, dass der Nutzer nicht in eine komplett neue Welt abtaucht.
- Augmented Virtuality (AV): Bei Augmented Virtuality werden reale Objekte oder Personen in eine virtuelle Umgebung implementiert, sodass sie mit der virtuellen Welt interagieren können. Anders als bei AR, steht vorrangig die virtuelle Umgebung im Mittelpunkt. Solche digitalen Räume werden beim derzeitigen Stand der Entwicklung oft durch die dreidimensionale Digitalisierung real existierender Umgebungen geschaffen.
- Mixed Reality (MR): Mixed Reality ist eine Mischung aus physischen und virtuellen Welten, die sowohl reale als auch computergenerierte Objekte umfasst. Die beiden Welten werden miteinander „vermischt“, um eine realistische Umgebung zu schaffen. Die HoloLens von Microsoft ist ein gutes Beispiel dafür, dass man beispielsweise digitale Objekte in den Raum, in dem man sich befindet, platzieren und einem die Möglichkeit geben kann, es zu drehen oder mit dem digitalen Objekt zu interagieren.
- Virtual Reality (VR): Im Gegensatz zu Augmented Reality sind die Nutzer in einer „Virtual-Reality-Erfahrung“ vollständig in eine simulierte digitale Umgebung vertieft. Um eine 360-Grad-Ansicht einer künstlichen Welt zu erhalten, setzt man ein VR-Headset auf. Diese sind portabel und man kann sich mit ihnen bewegen. Des Weiteren können einzelne Gliedmaßen und Zubehör wie Sportgeräte dank spezieller Controller und moderner Sensor- und Kameratechnik erkannt werden.
TTR: Welches Potenzial bieten diese neuen Technologien in der Praxis? Gibt es Anwendungsbeispiele für Tourismusbetriebe?
Eva Guem: XR bildet das Tor zur virtuellen Welt, dem Metaverse. Mit dem Wissen von heute kann das Metaverse als die nächste logische Stufe des Internets gesehen werden: ein dreidimensionales Internet, das persistent ist und in Echtzeit geschieht. Seine virtuellen Räume werden jederzeit verfügbar sein. Sie werden einerseits komplett virtuell (also in der Virtual Reality) existieren und immersiv sein, zugleich werden die virtuelle und analoge Welt aber weiter verschmelzen. Über Augmented Reality werden wir in unserer realen Umgebung mit digitalen Inhalten interagieren.
Für Tourismusbetriebe sehen wir sieben vorrangige Anwendungsbeispiele für Extended Reality und das Metaverse:
1. Storyliving: Geschichten (er)leben
Dieses Konzept experimentiert mit neuen Umsetzungsformen wie etwa AR oder VR. Storys sollen nicht nur erzählt, sondern erlebbar werden. Als Inspirationsquelle oder als Vorbereitung auf eine Reise können Gäste in Destinationen eintauchen und sich mit dem Angebot der Region oder einer Unterkunft vertraut machen. Auch im Urlaub selbst kann die Überlagerung von realen und virtuellen Realitäten eingesetzt werden. Dabei ist die richtige Mischung entscheidend – wie viel „echte“ Umwelt und „echtes“ Erlebnis wird Gästen angeboten und wie viel virtuelle Überlagerung wird in die persönliche Erlebniswelt eingespielt.
2. Virtuelle Kundenbeziehungen
Betriebe und Destinationen können bei der Gästeansprache völlig neue Wege beschreiten. Touristiker*innen erhalten zum ersten Mal die Möglichkeit, mit Gästen im virtuellen Raum zu kommunizieren und sie zu beraten. In einem digitalen Zwilling des Hotels in der virtuellen Realität können Mitarbeitende als Avatare ansprechbar sein, die (potenzielle) Gäste bei Buchungen beraten oder das Hotel vorstellen. Durch das Gefühl der physischen Präsenz kann ein vertrauterer Kontakt als bei Videochats auf 2D-Bildschirmen hergestellt werden.
3. Events
Im Metaverse wird es auch möglich sein, Veranstaltungen auszurichten oder Räume dafür zur Verfügung zu stellen. Hotels können in die Entwicklung virtueller Räume für verschiedene Veranstaltungen wie Seminare, Messen oder Musikveranstaltungen investieren. Insbesondere für größere Hotelmarken könnte es attraktiv sein, ihr Kapital und ihre Reichweite zu nutzen, um im Metaverse Veranstaltungen anzubieten, die im physischen Raum bisher undenkbar waren. Neben der Diversifizierung der Einnahmequellen ermöglicht dies auch eine Ansprache neuer Kundengruppen.
4. MetaHotels
Ein innovatives Konzept stellen sogenannte „MetaHotels“ dar. Sie existieren in einem virtuellen Raum, in dem Werbung, Interaktion und virtuelle Erlebnisse möglich sind. In Bezug auf Form und Lage bieten sie unbegrenzte Möglichkeiten. Bevor Reisende ein Zimmer buchen, besuchen sie im Metaverse sein digitales Abbild. Sie bewegen sich virtuell durch die realitätsgetreue Hotellobby, das Restaurant und das Fitnessstudio und machen sich so ein Bild davon, was sie erwartet. Das intensiviert die Auswahl- und Buchungsphase und vermeidet zudem die Enttäuschung, weil die Unterkunft dann doch anders aussah als in der eigenen Vorstellung.
5. Upselling
Das Metaverse bietet neue Möglichkeiten, den Umsatz durch Upselling zu steigern. Es ist eine hervorragende Möglichkeit, Gästen Upgrade-Zimmer und verschiedene Zimmeroptionen zu zeigen, sich ein Bild von den Erlebnissen zu machen, die das Hotel bietet, und die Dienstleistungen des Hotels zu erkunden. Diese Art der Visualisierung macht Optionen weniger abstrakt und kann dazu führen, dass Gäste sie eher kaufen.
6. Digitales Marketing
Durch das Metaverse kann digitales Marketing ein physisches oder digitales Hotel auf eine einzigartige und verbesserte Weise bewerben. Eine Möglichkeit ist die Schaltung von Anzeigen in Metaverse-Welten. Es kann nach Metaverse-Welten gesucht werden, die genau die Reichweite und Nutzergruppe des Zielkund:innen haben. So können Plakate oder interaktive Werbeelemente in Virtual- und Augmented-Reality-Welten platziert werden, oder Hotels können eigene immersive Werbeerlebnisse und Spiele über eigene oder fremde Metaverse-Welten zugänglich machen. Produktplatzierungen können auch über entwickelte Influencer (digitale Menschen) erfolgen, die mit ihren eigenen Inhalten eine hohe Reichweite erzielen, zum Beispiel auf einer Metaverse Social Media Plattform. Werbung kann auch auf eigenen oder fremden virtuellen Veranstaltungen über Anzeigen oder Produktplatzierungen erfolgen.
7. Digitaler Zwilling
Ebenso verwandelt ein digitaler Zwilling als Marketinginstrument das mögliche Kundenerlebnis in einen begehbaren digitalen 3D-Zwilling. Was früher nur in Bildern oder Videos zu sehen war, kann nun virtuell 1:1 erlebt und vermittelt werden. Alle Daten, die beim Besuch des digitalen Zwillings anfallen, können detailliert ausgewertet werden. Zum Beispiel, welche Hotelzimmer und Hoteleigenschaften die meiste Aufmerksamkeit erregen und welche Personengruppe sich in welchem Ausmaß für das Hotel interessieren. Natürlich kann auch der gesamte Buchungsprozess mit einem solchen digitalen Zwilling verknüpft werden und direkt in ihm erfolgen.
Die virtuelle Zukunft liegt genau vor uns. Extended Reality bietet erstmals die Gelegenheit, ein physisches Erlebnis in ein digitales Erlebnis zu übertragen. Die Nutzung von Extended Reality und Metaverse wird Gäste in futuristische Welten entführen und für Tourismusbetriebe neue zukunftsweisende Geschäftsmodelle eröffnen.
TTR: Wo können sich Interessierte näher über Branchentrends im Tourismus und Fragestellungen im unternehmerischen Kontext informieren?
Eva Guem: Auf der BTV-Wissensplattform für Touristiker*innen publiziert die BTV regelmäßig Artikel und zukünftig auch Whitepaper zu aktuellen und praxisrelevanten Fragestellungen im Tourismus, die uns selbst aber auch unsere Netzwerkpartner*innen und Kund*innen beschäftigen.
Hinweis: Dieser Beitrag ist am 19. Mai auf der BTV Wissensplattform für Touristiker:innen erschienen.
Eva Guem, Expertin für Tourismus, BTV Vier Länder Bank
Eva Guem ist Inhouse Consultant und Expertin für Tourismus in der BTV Vier Länder Bank. Frau Guem verantwortet die strategische Weiterentwicklung des Fokusthemas Tourismus und baut durch die Zusammenarbeit mit renommierten Forschungsinstituten und Expert*innen aus der Praxis Spezialwissen als Mehrwert für unsere Kund*innen aus der Tourismusbranche auf. Auf unserer Website schreibt sie regelmäßig über unternehmerische Fragestellungen zu Geschäftsmodellen von heute & morgen.
Datum: 5.7.2023
Fotonachweis: Gettyimages - Tim Robberts, BTV